My body, your choice?

My body, your choice?

Die Entscheidung des Supreme Court ist gefallen und löst internationales Entsetzen aus. Am 24. Juni 2022 kippt das Oberste Gericht der USA  das landesweit geltende Recht auf Abtreibung und beendet damit ein fast 50 Jahren geltendes Leiturteil.


  • Dieser Artikel entstand in Zusammenarbeit von Helen & Insa. Eine Variation des Artikels findest du auf Helens Blog!

Vergesst nicht, es genügt eine politische, ökonomische oder religiöse Krise – und schon werden die Rechte der Frauen wieder infrage gestellt. Diese Rechte sind niemals gesichert.

Simone de Beauvoir

Während in Deutschland der Bundesrat nach langen Diskussionen final für die Aufhebung des als §219a StGB bekannten Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche stimmt, kippt der Supreme Court der USA am 24. Juni 2022 das landesweit geltende Recht auf Abtreibung. Damit wird das fast 50 Jahre allgemeingültige Recht auf Schwangerschaftsabbrüche vom überwiegend konservativen Obersten Gericht eingeschränkt und wieder auf die einzelnen Bundesstaaten übertragen. 

  • Hier findet ihr eine Übersicht der einzelnen US-Bundesstaaten und ihre Position zu Abtreibungsgesetzen.

Der Beschluss des Supreme Courts trieb viele Menschen im Jahr 2022 einmal mehr für Frauen- und Menschenrechte auf die Straße. Kurz nach Urteilsverkündung gab es unzählige Reaktionen in den USA selbst, aber auch weltweit. Der amtierende US-Präsident Joe Biden (D)– übrigens Katholik – sprach von einem “tragischen Fehler”; Barack Obama rief zum Widerstand gegen das Urteil auf. Bidens Vorgänger Donald Trump (R), der in seiner Amtszeit mit der Ernennung drei weiterer konservativen Richter den Weg für den Beschluss geebnet hatte, feierte das Ergebnis als die „Entscheidung Gottes“.


Hintergrund

Das US-amerikanische Rechtssystem basiert auf dem “Common Law”, das sowohl auf Gesetzen als auch auf Präzedenzfällen aufbaut. Einer dieser Fälle ist 1973 mit dem Grundsatzurteil im sogenannten Fall “Roe v. Wade” in die Geschichte eingegangen, nachdem der Supreme Court die unangemessene restriktive staatliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs als verfassungswidrig eingestuft hatte.

Bereits vor dem jetzigen Prozess gab es Hinweise darauf, dass es zu einem etwaigen Beschluss kommen könnte. Der Supreme Court prüfte im Dezember 2021 eine Anfrage des Bundesstaates Mississippi, der Abtreibungen nach der 15. Schwangerschaftswoche verbietet – was nach der bisherigen Rechtsprechung eigentlich als verfassungswidrig galt. 

Wer sich nun nun denkt: Was ist das für völliger Humbug, wenn “alte weiße cis Männer” in einer rückwärtsgewandten Logik über Personen mit Uterus [diese Beschreibung inkludiert Frauen, nichtbinäre, trans* und inter* Personen] entscheiden können? darf sich gerne die Wurzeln dieser Debatte einmal genauer anschauen: denn unter den Feiernden dieses Beschlusses als Sieg für das Leben sind auch Frauen zu finden. Die strenge Haltung gegen Abtreibung wird in den USA vor allem durch die Pro Life Bewegung vertreten, die seit den späten 1970er Jahren von stark fundamentalistisch verankerten Evangelikalen angeführt wird – mit gravierenden Folgenden für große Teile der Gesamtbevölkerung des Landes. 

Die Pro Life Bewegung machte sich auch international einen Namen durch ihre Proteste vor Kliniken, die Abtreibungen vornehmen. Mit schwenkenden Schildern werden Betroffene auf dem Weg in Kliniken angesprochen, zum Teil beschimpft und beschworen, auf die Abtreibung zu verzichten. Extremere Aktivist*innen schrecken auch vor körperlichen Angriffen, Kidnappings und Mord nicht zurück, um ihre Überzeugungen durchzusetzen. Ein bekanntes Ziel der Bewegung sind zum Beispiel die Filialen der Non-Profit-Organisation Planned Parenthood, die neben Abtreibungen auch Dienste wie Schwangerschaftstest, Vorsorgeuntersuchungen, Beratung zur Familienplanung und Verhütungsmitteln, sowie Aufklärung zu und Tests auf sexuell übertragbare Krankheiten anbieten. Neben Kliniken sind oft auch politische Einrichtungen betroffen, sowie Universitäten, an denen Pro Life-Aktivist*innen die Diskussion mit Studierenden suchen. 


Warning - Graphic Images Ahead!
University of Oklahoma, 2015

Exkurs: Insas Rambling

Frühjahr 2015. Aufgekratzt durch meine Lektüre über Ethik und Respekt in den Native American Philosophies, einer Vorlesung über Geschlechterdarstellung in Film und Fernsehen und viel zu viel Kaffee trat ich auf die Grünflächen des US-Campus, auf dem ich gerade studierte. Ein leuchtend gelbes Schild, das am Tag zuvor noch nicht dagewesen war, zog seine Aufmerksamkeit auf mich. Die Aufschrift: “Warning: Graphic Images Ahead!”

Ich sah über das Schild hinaus zu der anderen Seite der Grasfläche. Ein Stand war dort aufgebaut worden mit überdimensionalen Bildern von Embryonen in und außerhalb vom Mutter*leib, Ultraschallbildern und medizinischen Zeichnungen von Uteri. Es war meine erste reale Begegnung mit Pro Life Aktivist*innen. 

Neugierig kam ich näher und fand einen jungen, weißen cis Jungen, der den Stand betreute. Neben den Bildern fand sich dort auch zwei Unterschriftenlisten, eine mit Yes, und eine mit No beschriftet. Die Frage dazu war “Should abortion stay legal?” Da keine weiteren Angaben zur Person gemacht werden mussten, kritzelte ich eine unleserliche Unterschrift in die “Ja” Liste. 

Wie aufs Stichwort lächelte der Junge mich an und kam näher.

“Kann ich mit dir über deine Meinung sprechen?“, fragte er mich.

“Sicher”, sagte ich.

Wir diskutierten bald eine Stunde, ein sehr religiöser Evangelist mit vor allem christlichen Argumenten gegen mich, eine agnostische Deutsche, die sich mit Drohungen, für meine Ansichten in die Hölle zu kommen, nicht einschüchtern ließ. Für mich zählten weniger die ethischen Fragen, als das Argument, dass Abtreibungen nur durch Legalität sicher für die Eltern und Kinder sein würden. Und dass letztendlich jeder Mensch das Recht auf Selbstbestimmung haben sollte.

Am Ende verabschiedete der junge Evangelist mich mit dem Hinweis, dass er für mich beten würde. Ich bedankte mich und ging mit der Gewissheit, dass während unserer Diskussion deutlich mehr Menschen für Yes als für No unterschrieben hatten. Gar nicht schlecht für eine Uni im Bible Belt.


Eine moralische Grundsatzdebatte?

Natürlich müssen wir keine Diskussion darüber führen, dass jedes Leben schützenswert ist. Der Kern der Debatte scheint eher einer tiefgreifenden philosophische Frage zu folgen: ab wann beginnt überhaupt menschliches Leben? 

Stark religiöse Evangelisten wie mein Diskussionspartner an der US-Uni argumentieren, dass ein Embryo bereits von Beginn der Schwangerschaft als Baby ein Recht auf Leben hat, das ihm nicht genommen werden darf. Und auch in anderen Glaubensgemeinschaften werden Abtreibungen kritisch diskutiert. Die Tora zum Beispiel sieht einen Embryo zwar schon als potentielles Leben schützenswert, jedoch wird das Kind erst mit der Geburt als eigenständiger Mensch betrachtet und mit dem Leben der Mutter* gleichgestellt. Daher sei das Leben der Mutter* vorrangig zu schützen. Im Koran finden sich keine genauen Passagen zur Abtreibung; grundsätzlich besteht auch hier seit jeher viel Uneinigkeit in der Auffassung, wann menschliches Leben beginnt. In verschiedenen Gutachten verorten muslimische Rechtsgelehrte die Beseelung eines Menschen entweder zum 40. oder dem 120. Tag nach der Befruchtung, wonach eine Abtreibung eine größere Sünde darstellt als noch vor der Beseelung des zukünftigen Menschen.

Dass Mitglieder unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften unterschiedliche Ansichten zu diesem Thema haben, zeigt die folgende Infografik der American Muslim Poll. Auch wenn die Befragten sich über alle Glaubensrichtungen hinweg uneinig sind, ist es doch auffällig, dass lediglich bei Protestanten und vor allem bei weißen Evangelisten die Ansicht überwiegt, dass Abtreibung in allen oder den meisten Fällen illegal sein sollte. 

Wie auch in der Statistik erkennbar befassen sich natürlich auch viele weitere Glaubensgemeinschaften und nicht-religiöse Menschen mit etwaigen moralischen Richtlinien. Was jedoch im Endeffekt die Grundlage zur Entscheidung bietet, ist die juristische Situation des jeweiligen Landes – die in fortschrittlichen Demokratien für gewöhnlich dem Prinzip der Gewaltenteilung sowie der Trennung von Kirche und Staat unterliegt (Art. VI der US-Verfassung, sowie  1st Amendment). Doch wie frei der Supreme Court Entscheidungen fällen kann, wenn er gar keine politische Unabhängigkeit besitzt – das stellt durchaus die Legitimität eines demokratischen, juristischen Organs in Frage.

Selbstverständlich ist die philosophische und moralische Diskussion um schützenswertes Leben wichtig, in der Debatte um Schwangerschaftsabbrüche wird sie aber leider allzu oft von konservativen Positionen verzerrt dargestellt und als Vorwand benutzt. Dies wird vornehmlich in Argumenten mit einem gewissen Sprachgebrauch deutlich, bei dem die sehr intime und private Entscheidung der betroffenen Personen als Party-Sünde oder gar als leichtfertiger Mord deklariert wird. Dabei wird außer Acht gelassen, dass schwangere Personen mitunter die schwerste Entscheidung ihres Lebens auf Basis der eigenen Gesundheit, der Gesundheit des Kindes, einer schweren Lebenslage oder ähnlichen Gründen treffen müssen.

Darüber hinaus kann man an dieser Stelle auch die Frage stellen, warum konservative Amerikaner*innen beim Thema Abtreibung der Schutz von Kinderleben in den Mittelpunkt stellen, gleichzeitig aber Waffen an US-Schulen billigen, egal wie viele Schüler*innen bereits durch Schießereien gestorben sind. Auch die Sicherheit von flüchtigen Kindern hatte sich unter der republikanischen Regierung unter Donald Trump noch verschärft; die Kinderarmut stieg weiter an. Warum sich konservative Menschen in den seltensten Fällen auch für diese Themen einsetzen, um Kinderleben zu schützen, ist wohl doch zu hinterfragen. Vielleicht weil es eben doch nicht um den Schutz kindlichen Lebens geht.


Von Unvorsichtigkeit und Leichtsinn

Auch ohne das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch werden diese in ihrer Quantität nicht unbedingt zurückgehen, sondern lediglich viel gefährlicher für Mutter* und Kind ausfallen: Kleiderbügel, Häkelnadeln und andere Gegenstände werden in der Not zur Hilfe herangezogen und führen zu schweren Infektionen, im schlimmsten Fall zum Tod der schwangeren Person. In den USA besteht die Gefahr, dass vor allem von Armut betroffene Menschen zu diesen Mitteln greifen könnten, die es sich vielleicht nicht wie wohlsituiertere Personen leisten können, für eine Abtreibung in andere Bundesstaaten oder gar andere Länder zu reisen, in denen Abtreibungen legal sind. Wir erinnern nur ungern an extreme Fälle in den USA, wie etwa die Schwangerschaft einer jungen Frau, die das Kind ihres Vergewaltigers austragen musste und von diesem noch auf Sorgerecht verklagt wurde. Oder etwa das 10-jährige Mädchen aus Ohio, das nach einer Vergewaltigung schwanger wurde und zur Abtreibung in den Nachbarstaat Indiana reisen musste, weil sie drei Tage über der sechswöchigen Frist in ihrem Heimatstaat war.

Als Beispiel für die Folgen eines gänzlichen Abtreibungsverbot lohnt sich ein Blick in die Geschichte Rumäniens. Um die Zahl der rumänischen Bevölkerung zu erhöhen, erließ der damalige Diktator Nicolae Ceaușescu im Oktober 1966 das Dekret 770, welches Schwangerschaftsabbrüche nur noch ab einem Alter von 40 Jahren oder nach vier Kindern legal machte. Die Folge: viele Personen mit Uterus griffen zu illegalen, oft amateurhaften Abtreibungsmethoden. In der Folge verloren ca. 11.000 Personen ihr Leben; vermehrt kamen Kinder durch misslungene Abtreibungsversuche mit Beeinträchtigungen zur Welt. Diese wurden häufig zusammen mit anderen ungewollten Kindern in Waisenhäuser abgeschoben. Das Dekret hatte gravierende sozialen Probleme zur Folge, die auch heute noch in Rumänien nachklingen.


Alles Dystopie?

Neben zahlreichen Reaktionen von Politiker*innen, Intellektuellen und Aktivist*innen weltweit, machen sich auch unter den Nutzer*innen der sozialen Medien verschiedene Sorgen und Ängste breit. Inzwischen sind Aufrufe zu hören, keine Perioden-Tracker mehr zu verwenden, damit der Staat die Fruchtbarkeits- oder Schwangerschaftsdaten nicht zur Strafverfolgung nutzen kann, um illegal durchgeführte Abtreibungen aufzudecken. Als Alternative werden europäische Apps empfohlen, die sich an das DSGVO halten. Wer sich nicht auf deren Verschwiegenheit verlassen möchte, dem wird das händisch Eintragen in Kalender und Exceltabellen empfohlen. Auch der Kauf von Hygieneprodukten, Schwangerschaftstests und Verhütungsmitteln sollen laut Stimmen auf Social Media bestenfalls nicht mehr mit Karte oder online gekauft, sondern mit Bargeld bezahlt werden. 

Aufrufe wie diese mögen auf den ersten Blick wie übertriebene Reaktionen wirken. Die Entwicklung der USA in den letzten Jahren jedoch hat gezeigt, dass der Graben zwischen den Republikanern und Demokraten immer größer wird, und Debatten um grundsätzliche Themen wie die Rechte von BIPoC und LGBTQIA* Personen oder auch die Klimakatastrophe emotional sehr aufgeladen sind und dementsprechend extremere Formen annehmen.

Es macht daher Sinn, dass auch die Reaktion auf die jüngste Entscheidung des Supreme Courts dementsprechend extrem und zynisch ist, vor allem vor dem Hintergrund der deutlichen Mehrheit von konservativen Richter*innen im Obersten Gerichtshof der USA. Und da diese auf Lebenszeit berufen werden, könnte diese einseitige Rechtsprechung Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte andauern und sich im schlimmsten Fall ausweiten. Denn nachdem Roe v. Wade nun gekippt wurde, könnten sich auch andere Urteile anschließen, die aufgrund ähnlicher Grundlagen beschlossen wurden. Darunter fallen auch das Recht auf Heirat für gleichgeschlechtliche Partner*innen und das Recht auf Verhütung

Der Gedanke, dass die USA sich vor unseren Augen in eine Dystopie verwandeln könnte, ist den nicht-konservativen Bürger*innen also nicht fern. Tatsächlich ziehen viele Menschen in den USA in ihrer Reaktion auf die Entscheidung Parallele zu der TV Serie The Handmaid’s Tale (2017), in der die Vereinigten Staaten zum fundamentalistischen Staat Gilead geworden ist und fruchtbare Frauen auf gebärfähige Hüllen ohne Rechte reduziert werden. Die roten Roben und weißen Sichtblenden der Handmaids sind in Fotos auf Instagram, Videos auf Tiktok und zwischen den Protestierenden auf den Straßen zu finden. Selbst die Autorin des Romans (1985), auf dem die Serie basiert, hat sich zu der Situation geäußert:

Although I eventually completed this novel and called it The Handmaid’s Tale, I stopped writing it several times, because I considered it too far-fetched. Silly me.

Margaret Atwood.

Disclaimer: Im Artikel werden die Bezeichnungen Menschen mit Uterus, Mutter* und Frau verwendet. Die Debatte betrifft nicht selbstverständlich nicht nur cis Frauen, sondern alle Menschen, die die Fähigkeit haben, Kinder zu gebären – also auch nichtbinäre, trans* und inter* Personen. Der Begriff Mutter* umfasst ebenfalls all diese Personen. Auf Frauen beziehen wir uns im politischen und religiösen Diskurs, weil die Argumentierenden selbst oft nur Frauen berücksichtigen.


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